Daniel Weltlinger Quartet

Das Album Szolnok erzählt die ganz besondere und sehr persönliche Geschichte einer Violine, die den Hörer durch die Zeit und über die Kontinente führt. Es ist die Geschichte einer Flucht, eines Ankommens und einer Rückkehr.



Aber eins nach dem anderen: der australische Violinist Daniel Weltlinger zog 2013 nach Berlin. Irgendwann hatte er den Wunsch, ein Jazzquartett unter seinem Namen zu gründen. Die Mitstreiter standen bald fest: am Klavier sollte es Uri Gincel werden, am Schlagzeug Mathias Ruppnig und am Bass Paul Kleber. Daniel Weltlinger sagt über seine Auswahl: „My reasoning for choosing Uri, Mathias and Paul to create this quartet has to do with their truly open sense of sound, which is when musicians can play outside of a conventional style of music and have the creative freedom to do whatever they hear and want in the moment that fits, which is exactly what these guys are capable of.”



2016 entstand die erste Idee für ein gemeinsames Album rund um die Violine von Daniel Weltlingers Großvater Zoltan Fyszman und dessen außergewöhnliche Lebensgeschichte. Der Albumtitel Szolnok ergab sich ganz natürlich, da die Violine in dieser ungarischen Stadt gebaut und auch Weltlingers Großvater dort geboren wurde; in ihr ist außerdem der Name der Stadt verewigt.



Durch die Wirren der Weltgeschichte begann die Violine im Gepäck von Zoltan Fyszman eine Weltreise: von Ungarn zu Fuß nach Frankreich, über Marokko bis nach Australien, wo er 1998 als „Zoltan Fishman“ im Alter von 96 Jahren verstarb. Bis zuletzt spielte er noch auf seiner Violine. Sein Enkel erbte sie von ihm und brachte sie am 11. Oktober 2017 zurück nach Europa und nur zwei Tage später erklang auf ihr im Schloss Bellevue im Rahmen eines Konzerts für den Bundespräsidenten eine gemeinsam mit einem türkischen Ensemble aufgeführte Version der deutschen Nationalhymne.



Weltlingers ursprüngliche Idee war ein Album voller Stücke, die Zoltan Fishman auf der Violine Zeit seines Lebens gespielt hat. Ende 2016 entwickelte sich die Idee hin zu einem Album, das anhand der Musik die Geschichte von Zoltan und seiner Violine, ihres Überlebens, selbst erzählt. Das erste Stück ist mit seiner offenen Saitenstimmung inspiriert vom Klang einer Uhr und steht mit seinem langsamen aber beständigen Rhythmus für die Zeit, die so bestimmend für das Album ist. Danach folgt eine Hommage an den ursprünglichen Besitzer der Geige, Zoltans Bruder Ernő, der 1918 an der Spanischen Grippe verstarb; eine Referenz an Brahms‘ Violinkonzert ist hier zu hören – es war das letzte von Ernő gespielte Stück, bevor er verstarb. Der jazzige Track „1921“ mit seiner dunklen und grüblerischen ungarisch-rumänischen Basslinie und seinen gespenstischen Geigen-Tremoli evoziert die langen, immer den Elementen ausgesetzten Fußmärsche von Zoltan und zwei Freunden auf dem Weg von Ungarn nach Frankreich, auf der Flucht vor den sozialen und politischen Turbulenzen in ihrer Heimat, und auf der Suche nach einem Land, das sie aufnehmen würde.



Es folgt ein Stück des französischen Chansonniers Henri Alibert namens „Bonjour, Bonsoir, Adieu Marseilles“, das die Zeit repräsentiert, in der Zoltan in Marseilles Zuflucht gesucht hatte und als semi-professioneller Violinist in Caféhausorchestern arbeitete. Daniel Weltlinger über seinen Großvater: „He loved to serenade people – often with a bottle of Slivovitz, Pernod or Johnny Walker Black close at hand - and his style of playing was heavily influenced by the café orchestras he had once worked in and the many artists - including Edith Piaf - he had spent time with and personally knew.”



Die nächsten beiden Stücke, Anna Marlys magisch klingendes „Le chant des Partisans“ und Daniel Weltlingers „North Africa“ mit Anklängen an die Gräuel des Krieges und der Zerstörung in Europa sind laut Weltlinger so nah an der Geschichte der Violine wie nur möglich, auch wenn die Familie nie genau erfahren hat, wie sie den Zweiten Weltkrieg überstanden hat. Sicher ist, dass Zoltan gemeinsam mit einem Freund vor dem Vichy-Regime über die französisch-spanische Grenze entkam, wo sie von Francos Polizei aufgegriffen und in ein Gefängnis in Algerien verlegt wurden. Mit Hilfe des Roten Kreuzes gelang die Flucht. Zoltan schloss sich der Résistance in Nordafrika an und wurde später zu deren Anführer, bevor er von den Briten in die 8. Armee aufgenommen wurde und dort mit Einsätzen in Nordafrika und Italien bis zu Weltkriegsende verblieb. Ob die Geige ihn nach Nordafrika begleitete oder in einem sicheren Haus in Frankreich verblieb, ist nicht geklärt, sicher ist aber, dass sie Zoltan nach dem Zweiten Weltkrieg in Marokko wieder bei sich hatte.



Nach dem Krieg ließ sich Zoltan in Casablanca nieder, wo er seine spätere Frau Doreen Alster treffen würde, die selbst von Wien über Polen nach Marokko geflohen war. Auf dem Album wird diese Phase durch die Barcarole aus Jacques Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ repräsentiert, das Zoltan für Doreen spielte. Mit seiner subtilen, träumerischen Melancholie spiegelt es das sich später als falsch herausstellende Gefühl der Sicherheit in der neuen und schönen Heimat nach dem Krieg wieder. Das wurde jäh mit dem Unabhängigkeitskampf gegen die französische Kolonialmacht der 1950er Jahre zerstört und das Ehepaar beschloss nach einem Angriff auf Zoltan, nach Australien zu fliehen, wo Doreens Schwester wohnte.



„Mr Fishman“ beginnt mit Feldaufnahmen vom zeitlosen Klang der Vögel und Insekten im weit entfernten Australien, gefolgt von einer geschmeidig-eleganten Melodie, die für Zoltans Umbenennung in „Mr Fishman“ und sein anschließendes friedliches Leben in der neuen Heimat steht. Eine von Daniel Weltlinger komponierte Pizzikato-Melodie schließt sich in „La Famille“ an, eine Melodie für Kinder in einem Stil, den Zoltan gerne seinen geliebten Enkelkindern vorgespielt hat. Das nächste Stück „Tranquille à Sydney“ ist inspiriert von einer Aufzeichnung eines Interviews, das Zoltan für die Shoah Foundation der University of Southern California gegeben hat und das sein Enkel angesehen hat. Auf die Frage, warum er nach Australien ausgewandert sei, sagte Zoltan, es wäre dort „tranquil“ und es gäbe Frieden. Er hätte genug vom Krieg und von Konflikten. Das Stück fängt Zoltans letzte Jahre und das Schließen seines Geigenkastens ein, in der die Violine aus Szolnok all die Jahre sicher aufbewahrt gewesen war.



„2018“ steht für das Gesamtkonzept von Szolnok – die Zeit, das Überleben, die Erhaltung und die Kontinuität der Dinge. Heute spielt Daniel Weltlinger die Violine im Hier und Jetzt. So hat das Stück einen modernen Klang und verweist auf das Geigenthema aus „Szolnok“, dem ersten Stück des Albums, über die Basslinie aus „1921“ hin zu einer Idee des Weiterwanderns der Geige um die Welt von heute. Das Stück beginnt mit Feldaufnahmen von fröhlich im Park spielenden Kindern, dem Klang von Kirchenglocken und Vögeln in der Ferne und führt den Hörer nach Berlin, wo Zoltans Geige heute residiert und wieder erklingt.



Manuel María Ponces Stück „Estrellita“ beschließt das Album. Es ist ein Stück, das sehr eng mit Daniel Weltlingers erster Inspiration, als Kind auch Violine spielen zu wollen, verbunden ist und das er schon von klein auf immer wieder von seinem Großvater gehört hatte. Mit dieser berührenden Melodie schließt sich der Kreis musikalisch wie auch geographisch: eingespielt hat es Daniel Weltlinger als Feldaufnahme am 9. März 2018 in Budapest und in Zoltans Heimatstadt Szolnok, aus der auch die Violine stammt.



Hintergrund:

Der Violinist, Komponist und Produzent Daniel Weltlinger wurde 1977 mit französisch-österreichisch-ungarisch-israelischem Familienhintergrund im australischen Sydney geboren und lebt heute in Berlin. Bekannt wurde er vor allem für den unverkennbar warmen Klang seines Geigenspiels und seine Innovationen im Gypsy-Swing, Jazz, Klezmer und der experimentellen / frei improvisierten Musik. So hat der Absolvent des Sydney Conservatorium of Music in zahlreichen großen Konzertsälen, Theatern, Clubs und Festivals von Australien und Europa bis China, Marokko, der Türkei, den USA und Israel gespielt und mit vielen renommierten Künstlern und Ensembles aufgenommen, darunter der deutsche Sinti-Gitarrist und Komponist Lulo Reinhardt sowie Mitglieder der Familie Reinhardt, Karsten Troyke, Sharon Brauner oder das in Berlin lebende türkische Klassik-Ensemble Olivinn.



Er betreibt das Plattenlabel Rectify Records. Das dort erschienene Album Koblenz wurde vom Downbeat Magazine als eines der besten Alben des Jahres 2015 nominiert. Gemeinsam mit den ebenfalls dort veröffentlichten Samoreau (2017) und Souvenirs (2011) bildet Koblenz eine Trilogie über die Musik von Django Reinhardt. Zu weiteren der vielzähligen Projekte Weltlingers gehören u.a. das The Asthmatix, das Jazz und Electronica / Hip-Hop mit jüdischer Musik verschmilzt und das ungarisch-folk-experimentelle Duo The Huns. Darüber hinaus ist Weltlingers Musik regelmäßig im Radio und Fernsehen zu hören, u.a. bei drei Stücken von Tom Tykwers preisgekröntem Soundtrack zur Fernsehserie Babylon Berlin.



Veranstaltungsort und Adresse

Kesselhaus Lauenau, Carl-Sasse-Str.3, 31867 Lauenau

    19. Mai 2019

  • So
    19.05.2019
    20:00

Daniel Weltlinger Quartet

Diese Veranstaltung in Lauenau wurde von KesselhausLauenau veröffentlicht. Daniel Weltlinger Quartet ist der Rubrik Konzert zugeordnet.

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